Freitag, 11. November 2011

Zeitdürre

Am Fischstand drängelt sich eine junge Frau vor. Als wäre es das Natürlichste der Welt, stellt sie sich am Anfang der Schlange. Ich muss zugeben, dass mich ihre Nonchalance etwas aufregt, obwohl ich Britin bin, es besser wissen müsste und der Spruch „keep calm and carry on“ angeblich zu meinem DNA gehört. Stattdessen bin ich einer dieser gestressten Mütter geworden, deren Stirn voller Falten ist wie ein Blatt Origami und den Buggy gegen den kalten Wind des Alltags – Arbeit, Kind, Arbeit... - schieben. Dabei bin ich nicht allein; die Zeitungen bestätigen es, es geht kaum ein Tag vorbei, an dem man nicht Begriffe liest wie „work-life-balance“ oder wie neulich, im britischen Radio, Wörter hört wie „time famine“. Kinder hungern in Afrika und wie haben eine Zeitdürre! Geduld scheint in unserer heutigen Zeit zunehmend Mangelware zu sein. Wir wollen alles. Neulich im Restaurant wollte ein Gast ein Gericht auf so viele Weisen anders im Menü stehend bestellen (statt Röstkartoffeln Bratkartoffeln; statt Rehkeule Lammkeule, statt Soße Salat..) – da hätte ich ihm am liebsten gefragt, „warum kommen Sie überhaupt ins Restaurant? Sie sind doch nicht bei Ihrer Mutter!“ Bescheidenheit is a thing of the past. Die Randalierer im Sommer in London waren so arm, dass sie ihren Protest mit ihren Blackberrys organisieren mussten. Dennoch: Gerade hier, wo Polizeiwagen und Geschäfte brannten und im Londoner Stadtteil Tottenham die Rioters in ein Einkaufszentrum einbrachen, bildeten genau diese laut Polizeibericht eine ordentliche Schlange, um am helllichten Tag ein Sportgeschäft zu plündern. Auch ich lasse an der Kasse inzwischen nur noch Leute vor: die in Eile, die mit nur wenige Waren, die, die nett drum bitten. Sollen die hinter mir wegen meines Verhaltens kochen und zischen. Ich bin großzügig, Meisterin im Schlangestehen und für meine deutschen Mitbürger ein Vorbild.

Freitag, 16. September 2011

Fliegen in London

In den Wochen, nachdem ein für mich sehr wichtiger Mensch gestorben ist, lähmt mich eine bleierne Müdigkeit. Zum Glück soll ich nach London; die Reise könnte eine gute Ablenkung sein, denke ich. Die Arbeit vor Ort fällt mir allerdings schwer. Ich möchte mich einfach nur für ein paar Stunden auf mein Hotelbett fallenzulassen und schlafen...

Und dann, am nächsten Tag, soll ich im Namen der Arbeit mit dem Rad durch London fahren. Es ist gar nicht lange her, da galt London als einer der gefährlichsten europäischen Städte für Radfahrer. Als Kind bin ich in London im Sommer täglich Rad gefahren: immer nur im Kreis, in unserem kleinen Hintergarten.

Nun boomt das Radfahren geradezu in London. An einigen Verkehrsknotenpunkten zählt die Londoner Verkehrsbehörde "Transport for London" zur Rush Hour-Zeit mehr Rad- als Autofahrer. Tatsächlich darf man sich nicht mehr wundern, wenn man als Fußgänger an einer Kreuzung steht und neben einem zehn Fahrradfahrer darauf warten, dass die Ampel auf grün schaltet. Die Radfahrer stammen dazu aus allen Klassen- und Altersgruppen: Banker und Studenten, Frauen in High Heels und Männer in Anzügen; sie fahren Vintageräder wie die bei Promis beliebte Electras, bonbonfarbene Fixedgear Bikes und Klappfahrräder.

Und ich, ich lenke zunächst vorsichtig meinen ausgeliehenen Foffa-Bike in dem Londoner Verkehr, überhole die ersten stehenden Taxis, sprinte bei Gelb vor den wartenden Autos und Bussen über die Kreuzung; nach kurzer Zeit habe ich das Gefühl geradezu zu fliegen: durch die Straßen Ost Londons, wo zwei ausrangierte U-Bahn Waggons auf einer graffitibeschmierte Mauer zu balancieren scheinen; am Tower vorbei, wo zwei Liebhaber mit Rollkoffern es vor der Bahnstation nicht schaffen, sich zu trennen; zur Themse runter, wo immer irgendein Wahrzeichen – der London Eye, die Tower Bridge – über Horizont oder Dächer ragt. Wie der einst berüchtigte englische Nebel lichtet sich beim Fahren etwas in mir und ich fühle mich wieder frei. Ich bin zurück im Leben.

(Mehr dazu gibt es von mir in der heutigen Financial Times).

Mittwoch, 10. August 2011

London Riots

Drei Tage brauchte David Cameron, um seinen Sommerurlaub abzubrechen und nach London zurückzukehren, um sich mit den Randalen auseinanderzusetzen. Dass er so lange gezögert hat, ist nicht unbedingt verwunderlich: Schließlich macht man die konservative Regierung, insbesondere das brutale Sparprogramm, das Cameron das hochverschuldete Land verordnet hat, für die derzeitigen Ausschreitungen verantwortlich. Tatsächlich geht es bei den „Riots“ um mehr als nur eine Reaktion auf die Einsparungen, die vor allem im sozialen Bereich gerade die ärmeren Vierteln Londons getroffen haben. In keinem europäischen Land ist die soziale Ungleichheit so zementiert wie in Großbritannien.

Nach wie vor bestimmen Herkunft und Aussprache - sprich: Klasse - den Stand in der Gesellschaft. Mein Vater, selbst aus der Arbeiterklasse, hatte es mit harter Arbeit vom Londoner Straßenjungen über die britische Armee und Abendschule zum angesehenen Designer geschafft. Wir Kinder sollten es besser haben: Für mehrere Tausend Pfund im Jahr schickte er uns auf eine Privatschule (und musste dafür stets bis spät in den Abend schuften). Morgens, wenn wir an der Bushaltestelle auf unseren Privatschulbus warteten, sahen wir die Kinder der staatlichen Schule auf der anderen Straßenseite auf den öffentlichen Bus waten. Uns trennte weitaus mehr als nur unsere Uniforme.

Heute kann ein Privatschulplatz mehr als 10 000 Pfund im Jahr kosten - während die Kindersterblichkeit in einigen Teilen Londons Drittweltniveau erreicht hat. Das in einem Land, das 13 Jahre von New Labour regiert wurde, für die oberster Ziel war, den „social divide“ für immer aufzuheben. Die Realität sah - und sieht anders aus: Unter Blairs Nachfolger Gordon Brown stellte die WHO fest, dass ein Kind im wohlhabenden Londoner Stadtteil Hampstead eine elf Jahre längere Lebenserwartung hatte als ein Kind aus King’s Cross, gerade fünf U-Bahn-Haltestellen weiter. Auch heute, wenn man sich nachts durch einige Straßen des sonst am Tage so glamourös erscheinenden West Ends hat man das Gefühl, sich in einem Sherlock Holmes-Film verirrt zu haben: so düster, so schmutzig, so viktorianisch wirken die Rückwände der Häuser, wo zwischen den Müllsäcken nicht selten Obdachlose – oft junge Männer – schlafen.

Die letzten zwei Jahre, die ich in London gelebt habe, zahlte ich mehr als 1000 Euro Kaltmiete für eine kleine Einzimmerwohnung – ein gewöhnlicher Preis für eine Wohnung, die zumindest nicht ganz am Stadtrand lag. Der Preis, um nur in der Stadt zu wohnen, erschien mir auf Dauer absurd. London ist eine tolle, aufregende Stadt: wenn man Geld hat. Wenn nicht, dann ist es für viele Menschen - aller Hautfarben und Altersgruppen - ein täglicher Überlebenskampf. Vor einigen Jahren behauptete Tony Blair „the class war is over“. Das stimmt, wie man diese Tage sieht, so nicht.

Donnerstag, 30. Juni 2011

Müllgeschichten

In der größten Lokalzeitung Hamburgs sah man diese Tage Hamburg gezeichnet im Stile der berühmten Wimmel-Kinderbücher. Thema der Zeichnung: Hamburg als Umwelthauptstadt. Es gab in dem Bild allerhand zu entdecken: Windräder an der Elbe, Elektroautos, die am Rathaus aufgeladen wurden, Schwimmende in der Alster. Nur eines fand ich nicht: Hamburgs berühmte Müllsäcke.

Auch heute, wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich die: jene Müllsäcke im kräftigen Pink, die auf dem Sandstreifen zwischen dem Bürgersteig und der Straße wie riesige, welkende Blüten herumliegen. Zweimal die Woche werden die Säcke, die in zahlreichen Haushalten in unserem Viertel die Restmülltonnen ersetzen sollen, abgeholt. Tatsächlich sieht man die, mal mehr, mal weniger, die ganze Woche über auf dem Sandstreifen. Sehr zur Freude der Hunde, die diese gerne als Toilette nutzen und die Säcke nachts, oder vielleicht sind es die Ratten, aufreissen, um den Inhalt auf dem Bürgersteig zu verstreuen.

Als ich vor wenigen Jahren von unserem Hausmeister so eine Rolle pinkfarbene Müllsäcke in die Hand gedrückt bekam und erfuhr, dass unser Wohnhaus keine Mülltonnen besaß, war ich fassungslos. Das nach Jahren, in denen Deutschland als Vorzeigeland für Müllverwertung gilt! Gerade bei uns Briten. Ich erinnere mich - es war kurz nachdem wir nach Deutschland zogen - wie die ersten Plastik- und Papierrecyclingsäcke an die Haushalte verteilt wurden. Wie sehr haben wir Kinder darauf aufgepasst, dass unsere Eltern jeden Joghurtbecher brav abspülten und diesen in den gelben Sack warfen. Später, als ich als Erwachsene zurück nach London zog, bemühte ich mich weiter meinen Müll zu reduzieren, während die Dame, bei der ich zunächst untergekommen war, stets vom Supermarkt mit drei oder vier Plastiktüten (obwohl einer es getan hätte) nach Hause kaum und diese nach Auspacken der Ware gleich in den Mülleimer warf. 

Ach ja, England. Das Letzte Mal als ich in London war, hatte jene eben erwähnte Dame sich im Vorgarten einen kleinen Schuppen bauen lassen: Inzwischen, so Mrs. W, hätte die Stadt ihr so viele Recyclingkisten aufgedrückt, dass sie den halben Vorgarten einnehmen würden! Während hier, auch jetzt, wenn ich mit meinem Tee am Fenster stehe, ich wieder Müllsäcke vor der Tür sehe, die keine so sonderlich hübsche Aussicht darstellen, und schon gar nicht nur Restmüll enthalten - in der Umwelthauptstadt Deutschlands.

Montag, 6. Juni 2011

Eine gewisse Vorsicht


Auf dem Wochenmarkt ist es trotz strahlenden Sonnenscheins relativ leer. Erdbeeren und Spargel werden gekauft, so eine Marktverkäuferin mit betonter Lässigkeit; Tomaten „eher weniger“.

Eigentlich sollen doch die Briten Meister im Understatement sein. Dass der Absatz von Tomaten und Gurken im Norden Deutschlands derzeit schleppend läuft, ist wohl untertrieben. Fast täglich sah man in den vergangenen Wochen in den Zeitungen Bilder von Salaternten, die gleich auf den Feldern vernichtet wurden und von Gurken, die die Mülleimer verstopften. Trifft man einen Bekannten auf der Straße, hört man immer wieder den Satz: „Ich gebe dir lieber nicht die Hand“. Panik verspürt man auf den Straßen Hamburgs seit Bekanntwerden des gefährlichen Darmkeims nicht - aber eine gewisse Vorsicht, was Hygienemaßnahmen und Essgewohnheiten betreffen. Auf einer Grillparty gab es neulich statt Rohkostsalat, gedünstete Karotten und Spargel.

Und dann sitze ich am Wochenende am Elbstrand. Der Strand wimmelt von Kindern; Rauchwolken ziehen in den Himmel von den vielen Grills, die in der Sonne blitzen. Es wird im Sand gespielt und gegessen. Und neben mir wischt sich ein kleiner Junge, 4 Jahre alt vielleicht, eine kleine Delle in den Sand, zieht sich die Hose herunter, und pinkelt erst einmal gemütlich im Beisein seiner ebenso entspannte, daneben sitzende Mutter mitten im Geschehen in den Sand.

Donnerstag, 5. Mai 2011

Verlustgefühle


Ich habe einen Fehler gemacht. Vor ein paar Wochen habe ich mir eine neue Teetasse bestellt, echtes englisches Porzellan, dazu mit der witzigen Aufschrift „I couldn’t care less about the Royal Wedding“ (die königliche Hochzeit ist mir völlig egal). In meinem Haushalt, muss man dazu wissen, und auch in denen so einige meiner britischen Freunde, ist die Teetasse nicht einfach irgendeine austauschbare Küchenutensilie; die Wahl der Tasse am Morgen oder Nachmittag wird stets wohlüberlegt und muss zur Stimmung, Jahreszeit (und zur Teesorte) passen. Sie reflektiert quasi den britischen Stimmungszustand. Ich erwarte nicht, dass man diese Macke versteht, nur: Als ich die Anti-Royal Wedding Tasse bestellte, hielt ich mich wohl noch für so cool und objektiv gegenüber das ganze Hochzeitsgeschehen – schließlich bin ich doch eine steinharte Journalistin -, dass ich gerade schmunzeln musste, bei der Vorstellung, wie ich mit der Tasse und einem ironischen Lächeln auf den Lippen die Zeremonie schauen würde.

Aber wie bereits gesagt: Ich habe einen Fehler gemacht. Denn die Tasse kam schon einige Tage vor der Hochzeit an – und ich habe sie nicht einmal verwendet. Als ich an dem 29.4. den Fernseher einschaltete, um mir die königliche Hochzeit anzusehen, schossen mir gleich die Tränen in die Augen. Nach einer Kindheit in London und meine Teenagerjahre in Deutschland, habe ich so viel Zeit in meinem Erwachsenenleben damit verbracht, eine Antwort auf die Frage zu finden, was für mich Heimat, und was Zuhause bedeutet; ob ich Britin oder Deutsche bin. (Heute akzeptiere ich, dass ich nun einmal eine Mischung aus beidem bin, und finde das völlig in Ordnung). Gerade hier in Hamburg dachte ich, jene Frage, auch weil ich nun selbst Mutter bin und Hamburg ganz wunderbar finde, endlich für mich gelöst zu haben; und nach den letzten Jahren, die ich als Erwachsene in London verbracht habe, mit meiner englischen Heimat abgeschlossen zu haben. Stattdessen habe ich während der ganzen Hochzeitszeremonie geheult – weniger, weil das Schauspiel in Westminster Abbey reif für eine Hollywood-Romanze gewesen wäre. Sondern, weil ich getrauert habe: um meiner Kindheit – schließlich stand ich 1981 mit einer Plastikfahne, auf denen Diana und Charles abgebildet waren, am Buckingham Palace, um der Prinzessin zuzuwinken. Und ich habe getrauert, um ein Teil von mir, das, wie bei vielen Briten, ob man es will oder nicht, unweigerlich mit dem Königshaus und alles, was es repräsentiert – Kontinuität, Geschichte, Gemeinschaftsgefühl – verstrickt ist.

Dieses Gefühl des Verlusts – der Verlust einer Heimat – schmerzt nun wieder etwas, wenn ich ehrlich bin. Es überrascht mich; schließlich dachte ich, mit der Heimatfrage seit einigen Jahren endlich abgeschlossen zu haben. Aber es wird auch wieder besser werden, bis ich das Gefühl in meinem alltäglichen Leben wieder vergessen habe und es zu einer Erinnerung verblasst. Wichtiger ist wohl dass man sich irgendwo auf der Welt zu Hause fühlt, als dass man seiner alten Heimat nachtrauert, die sowieso nicht mehr das ist, was es war, als man ein Kind war.

Und dennoch: Die Tasse mit der Aufschrift „I couldn’t care less about the Royal Wedding“ steht immer noch unbenutzt im Schrank.

Donnerstag, 28. April 2011

Queen Lit

Diana-Fans werden den neuen Roman von Monica Ali lieben. Eine britische Prinzessin taucht nach einem fast tödlichen Autounfall in einer amerikanischen Provinzstadt auf; mit neuem Namen und neuer Nase beginnt sie ein neues Leben. Die Kritiker sind dagegen weniger amused, dass Ali ausgerechnet Diana zum Thema ihres neuen Romans „Untold Story“ gewählt hat, und dieser neben „Sachbüchern“ wie „William and Kate: A Royal Love Story“ von James Clench, Belletristik wie „The Golden Prince“ von Rebecca Dean; Graphic Novels wie „Kate and William: A Very Public Love Story“ oder so aufschlussreiche Kinderbücher wie „The Queen’s Knickers“ zur königlichen Hochzeit erschienen ist; schaffte es die Autorin 2003 mit ihrem Debüt „Brick Lane“ auf die begehrte Granta-Liste der besten englischsprachigen Autoren neben Booker Prize-Anwärtern und „Supergehirne“ wie Julian Barnes.

Tatsächlich wird das Könighaus schon seit einigen Jahren von ernstzunehmenden Autoren literarisch verarbeitet, sei es in Roald Dahls „BFG“ oder Alan Bennetts „Die Souveräne Leserin“. Den Anfang machte die britische Autorin Sue Townsend 1992 und verbannte die königliche Familie in ihrer Kultsatire „The Queen and I“ in eine mittelenglische Arbeitersiedlung. Mark Helprin, ebenso Brite, schickte in „Freddy and Fredericka“ (2006) Diana und Charles im Auftrag einer geheimen, der Wiederherstellung der Monarchie gewidmeten Organisation in die Staaten, um diese für Großbritannien zurückzuerobern. Fast unvorstellbarer als Sue Townsends Vorstellung vom Ende der Monarchie ist das Thema der Novelle Alan Bennetts: Eine Queen, die sich nicht wie gewohnt zu Hause mit Puzzle und Pferderennen beschäftigt und mit Shakespeare angeblich nichts anfangen kann, entdeckt durch eine zufällige Begegnung mit einer mobilen Bücherei das Lesen und verschlingt daraufhin Werke von Marcel Proust. (Und dann wäre noch meinen Roman 'Ein Einziges Jahr', in dem ein Queen-Double eine führende Rolle spielt.)

Die Monarchie abzuschaffen, wenn auch nur literarisch, wäre vor einem halben Jahrhundert noch unvorstellbar gewesen. Damals galt sie als beliebt und besaß Aura genug, um nicht literarisch verarbeitet werden zu müssen, auch wenn das Mythos Königshaus von teils absurden Fantasien gestutzt wurde. Die bürgerliche Ehefrau von King Edward, Wallis Simpson, soll sowohl für die Amerikaner, Deutschen und Russen gleichzeitig Geheimagent gewesen sein, so der britische Journalist Jeremy Paxman in seinem Buch „On Royalty“. Diana schien als Prinzessin gewordene Ex-Kindergärtnerin zunächst die Verkörperung des königlichen Märchens überhaupt (man denke nur an ihre acht Meter lange Hochzeitskleidschleppe) - und trug dann mit ihren Enthüllungen von Affären und Essstörungen mehr zum Republikanismus in Großbritannien bei, als jedes Königshausmitglied vor ihr, so die „Economist“. Wir alle kennen die ernüchternden Berichte von Alltagsdetails der Royals, die in den Jahren danach folgten, von Tupperwaredosen auf dem Frühstückstisch der Queen etwa; oder von Charles, von dem behauptet wurde, mit einem Bedientesten im Bett erwischt geworden zu sein. Tatsächlich dienten solche, und auch heutige Meldungen von betrunkenen Prinzen, die aus Londoner Nightclubs torkeln, weniger dazu, das Königshaus in Verruf zu bringen, sondern als Erinnerung, dass man sich von der königlichen Familie Besseres erwartet; ja die Königshausmitglieder für bessere Menschen hält.

„Ich glaube, ich werde zum Menschen,“ sagt die Queen in Alan Bennett „Die Souveräne Leserin“ nach dem erneuten Ringen mit einer besonders schwerverdaulichen klassischen Lektüre. „Ich bin mir nicht sicher, ob dies eine willkommene Entwicklung ist.“ Dass man Charles beim Pflegen seines Biogartens in der Arbeitersiedlung zusehen darf, ist nicht zuletzt eine literarische Antwort auf das Bedürfnis des britischen Volkes, ein nahbares Königshaus zu erleben. Königshaus Satiren wie die der Anti-Royalistin Townsend („Queen Camilla“) seien weniger als boshafte, denn als herzliche Satiren zu verstehen, so Jon Howells von der britischen Buchladenkette Waterstones. Tatsächlich kann Queen Lit als Lückenfüller dienen, neben der Presse mit ihren saftigen Details über das Königshaus; eine Berichterstattung, die auch von den Sachbüchern, die in den letzten Monaten über Kate und Wills erschienen sind, fortgeführt wird. Muss man wirklich wissen, dass Kate und Williams Spitznamen, wie in dem neuen Buch vom Königshaus-Korrespondenten James Clench zu lesen, „Babykins“ und „Big Willie“ heißen?

Von ihrem Mythos beraubt und reduziert auf das, was die Medienwelt an Bildern hergibt, sind die Royals heute, so der Kritiker Norman Lebrecht, nichts mehr als ein Spiegelbild unserer selbst. Gerade in dem man die Queen beim zähneknirschenden Umrühren einer Dosensuppe oder in dem Versuch, einen Rollkoffer einer Treppe hinunter zu ziehen erlebt, erfährt man eine dem Königshaus in Zeiten des Massenmedien-Rampenlichts oft verloren geglaubte Bescheidenheit. Mit subtiler Satire der Monarchie zu mehr Popularität verhelfen: Das hätte eine bekennende Republikanerin wie Sue Townsend, dessen „The Queen and I“ dieser Tage in einer Neuauflage von Penguin erschienen ist, vermutlich nicht gedacht. Auch sie wird das „Spektakel“, der Royal Wedding, schauen; vielleicht, so die bekennende Republikanerin, könne es als Recherche für das Buch dienen, an dem sie derzeit schreibe.

Sonntag, 10. April 2011

"Falsch verstandene Nähe"

„Dir geht’s aber nicht so gut, oder?“

Die Sonne scheint; meine Nachbarin verkleinert die Augen. Ihr Blick, und ihre Frage lassen mich für ein Moment panicken. Sehe ich so fertig aus? Habe ich wieder, wie neulich, die Wohnung mit einem riesigen Breifleck auf der Jacke verlassen? Bis aus meiner anfänglichen Verunsicherung Wut wird: Welches Recht hat diese Frau, die mich kaum kennt, eine solche Frage zu stellen? – eine in dem (zumindest für mich) weniger Höflichkeit oder ernsthafter Sorge, als Skepsis, Schadenfreude und vor allen Dingen Neugierde mitschwingt.

Als ich noch in London lebte, habe ich neben meinem Beruf als Journalistin an ein Projekt für das British Council mitgewirkt, an dem auch einige Deutsche mitarbeiteten. Die englischen Kollegen begrüßten einen stets mit einem fröhlichen „Morning!“, neutralen „Hi!“ oder mit einem schlichten Kopfnicken, telefonierten sie etwa gerade. Meine deutsche Projektleiterin dagegen fragte mich zur Begrüßung einmal: „Wie siehst Du denn aus? War wohl eine lange Nacht..“

Ich hatte an jenem Morgen sehr gut geschlafen, danke, wenn auch zur kurz: Die Augenringe kamen vermutlich daher, dass ich am Vorabend mal wieder zu lange gearbeitet hatte. Am liebsten hätte ich der Dame geantwortet, dass ich die Nacht durchgezecht hatte und mal wieder betrunken in einer Polizeizelle aufgewacht war. Aber ich riss mich zusammen, murmelte etwas, und setzte mich an meinem Platz.

Einige Leser dieser Zeilen werden meinen, ich würde jetzt nur auf den altbekannten Stereotypen des zu direkten Deutschen herumhacken: Tatsächlich habe ich diese Form der direkten und oft skeptischen Nachfrage seitens Menschen, die man wenig kennt, nur hierzulande erlebt. In England würde man seinem Nachbar einfach nur einen freundlichen „Hello“ zuwerfen, oder sich über das neutrale Thema Wetter austauschen. Einige würden behaupten, dass so ein nichtssagendes Gequatsche total oberflächlich sei. Ich sage dazu nur: Wir sind Nachbarn. Und nicht beste Freunde.

Eine Etikette-Expertin, die ich mal interviewen durfte, sprach ich mal auf dieses Thema an. Sie meinte, es würde sich dabei um falsch verstandene Nähe handeln: Der Kollege, Nachbar oder Bekannte würde meinen, er könnte so direkt zu einem sein, weil man sich doch kennen würde.

Die Erklärung der Expertin hilft mir manchmal ein wenig, mich nicht all zu sehr über das Thema aufzuregen, wenn ich etwa nach der seltenen Joggingrunde von einem Nachbar gefragt werde, ob ich eine längere Runde als sonst gedreht hätte, und daran zu denken, dass es sich hierbei um einen kulturellen Unterschied, bzw. eines Missverständnisses handeln würde. Meistens aber helfen mir solche Gedanken erst, wenn es zu spät ist. Eine Mutter aus der Nachbarschaft, mit der ich neulich über das Thema Kitaeingewöhnung sprach, verriet ich fälschlicherweise, dass die Eingewöhnung weniger meinem Sohn, als mir schwerfiel. Dazu sagte sie gleich: „ja, das sieht man.“

Donnerstag, 31. März 2011

„Get this review off here!“

Letzte Woche war der Name Jacqueline Howett noch weitgehend unbekannt in der Welt, wie zahlreiche Erstromanautoren, mich eingeschlossen. Bekannt wurde Howett allerdings nicht, weil man ihr literarisches Talent plötzlich erkannt hat, sondern weil sie selbst zu einem Internetphänomen geworden ist: Howett erlaubte es sich, einen Buchkritiker (vom beliebten Indie Buchblogger BigAl: http://booksandpals.blogspot.com) zu widersprechen, der ihr Werk mit zwei Sternen auszeichnete und diesem vor allem wegen der im Werk enthaltenen Rechtschreibungsfehler ermahnt hatte. Howetts Reaktion begann damit, ihr Buch als „ausgezeichnet“ anzupreisen, die Besprechung dann als „Missbrauch“ zu verdammen, um daraufhin BigAl aufzufordern, seine Besprechung sofort zu entfernen („Now get this review off here!“) und sich schließlich mit einem eleganten „fuck off!“ zu verabschieden.

Der Sturm – eine Mischung aus Verwunderung und Entrüstung über Howett - entfachte sich schnell in den Online-Communities der Literaturwelt, was nicht überraschte, schließlich weiß man eines als Autor, dass Buchbesprechungen gefälligst zu ignorieren sind. Dass die Autorin, die ihr Buch selbst veröffentlichte, vielleicht doch etwas Unterstützung bei der Korrektur hätte holen sollen (und ihre Unfähigkeit, mit negativer Kritik umzugehen, vielleicht dazu geführt hat, dass sie keine geholt hat), ist eine Sache – ich zum Beispiel habe alle Entwürfe meines Romans nur einer Person gezeigt, meiner Mutter, vermutlich in der Hoffnung, sie würde vor lauter bedingungsloser Mutterliebe mich nicht zu sehr kritisieren (falsch gedacht).

Tatsächlich haben alle Autoren vermutlich ein, oder mehrmals mit den Gedanken gespielt, dem einen oder anderen Kritiker eine schlichte „fuck off“-Mail zu senden. Negative Besprechungen bedeuten schließlich viel mehr als Positive: nicht nur, wie die Autorin Jean Edelstein in der „Guardian“ behauptet, weil gute Besprechungen den Glauben des Autors bestätigen, dass man doch so talentiert sei; sondern weil schlechte Kritiken schlichtweg die schlimmsten Befürchtungen eines Schreibers bestärken: nämlich, dass man gar nicht schreiben kann. Die preisgekrönte britische Lyrikerin Wendy Cope erzählte neulich in einem Interview, dass sie sich selbst ertappt hatte, wie sie immer weniger schrieb, weil sie, wie sie feststellen musste, Angst vor dem Versagen hatte. Das Gefühl kann ich als Autorin bestätigen: Ich habe so viele halb fertige Kurzgeschichten in meinem Notizheft gekritzelt, dass man daraus ein ganzer Roman verfassen könnte. Diese auf meinem Rechner abzutippen und so zu konkretisieren, ist allerdings eine Tat, die für mich einen Blick in einem tiefen, dunklen Abgrund gleicht.

Als unbekannter Erstautor ist es so schwer, seine Leser zu erreichen, dass jede schlechte Kritik doppelt wehtut. Ich selbst habe, nach einigen ersten erfreulichen Besprechungen in der deutschen Presse, eine Kritik erfahren dürfen, in der eine Dame (und laut Amazon erfahrene Top-Rezensentin) behauptete, die Mängel an meinem Buch würden daran liegen, dass das Gefühlschaos meiner Protagonistin zu sehr ans Leben der Autorin angelehnt sei. Wie gerne hätte ich zurückgeschrieben, dass das ganz und gar nicht der Fall ist, und dass auch Personen mit 30, wie in meinem Buch beschrieben, durchaus irrationale Entscheidungen treffen können, auch wenn die Rezensentin solche emotionelle Aufs und Abs selbst vielleicht nicht erfahren hat.

Ich habe ihr natürlich nicht geantwortet. Ich möchte nicht wie Jacqueline Howett nur für meine fehlende Kritikfähigkeit bekannt werden. Vor allem wäre ich nie Autor geworden, wenn ich nicht bereit wäre, mich der großen, gefährlichen Meinungswelt auszusetzen. Autor zu sein heißt, dass man (hoffentlich) Leser hat, und die werden einem nicht immer wohl gesonnen sein. Stattdessen sollte man ihre Kritik dafür nutzen, einen besseren Autor zu werden. Von daher: Danke liebe negative Rezensentin. Wegen Ihnen werde ich hoffentlich das nächste Mal ein besseres Buch schreiben.

Samstag, 12. März 2011

Tattoo blues


Blondes, schulterlanges, Haar, etwas pummelig, Apfelbacken. Ich denke: Birkenstock, Alnatura, zwei Kinder, Ottensen. Als die Frau sich auszieht, sehe ich an ihrem Rücken einen Drachen sich über ein großes Herz schlängeln. Fast ihr gesamter Rücken ist mit einer Tätowierung verziert.

Es ist ein ganz normaler Tag in meinem Fitnessstudio in Bahrenfeld. Wie so oft um diese Zeit sind alle Laufgeräte besetzt; im Schwimmbecken teilen sich drei Leute eine Bahn. Auch in der Umkleide sind die meisten Spinde besetzt. Um mich herum sehe ich eine junge Frau mit einer Echse auf dem Schulterblatt. Eine Dame, die soeben aus der Dusche gekommen ist, ziert ein Blumengebilde am oberen Rücken und einem Arm. Neben mir trägt eine junge Frau eine Schwalbe auf der linken Pobacke.

In meiner Heimat in Großbritannien sieht man Frauen, vor allem in meinem Alter, eher selten mit einer Tätowierung. Und wenn, dann ist diese so dezent, dass man sie oft auf den ersten Blick nicht bemerkt. Tattoos gelten nach wie vor als etwas prollig; es sei, man heißt Alice Dellal, deren Körperschmuck gerade zu ihrem Markenzeichen als Topmodel geworden ist.

Mein Vater hatte sich als 17-jähriges Mitglied der British Army zusammen mit seinen Kameraden einen großen, fliegenden Adler auf dem Oberarm stechen lassen; etwas, was er später, in seinem Versuch mit Hilfe von Maßschneideranzügen und BBC-Englisch der britischen Klassenleiter emporzusteigen, sehr bereute und stets zu vertuschen versuchte. Nun stehe ich im Umkleideraum, siehe die tätowierten Frauen um mich herum, die nach dem Sport gerade wieder ihre Bürokostüme überstreifen, und frage mich, warum so viele Deutsche – Männer und Frauen - das Bedürfnis haben, ihre Körper für die Ewigkeit - je nach Ansicht - zu schmücken, bzw. zu entstellen?

Zuhause schaue ich zum Thema ins Internet. In einer Repräsentativerhebung der Universität Leipzig von 2009 heißt es, in Deutschland seien „Körpermodifikationen“ wie Tätowierungen und Piercings weiter im Trend; dabei zeige sich eine Geschlechts- und Altersabhängigkeit. Gerade Frauen würden bei Tätowierungen aufholen, heißt es dort. Andernorts behauptet ein Diplom-Psychologe, der Trend habe tatsächlich das ganze Land erfasst. Die Tätowierung sei ein „Autonomiegewinn“, in dem sich der Tätowierte von der Generation vor ihm, die keinen vergleichbaren Körperschmuck trägt, abzugrenzen versuchen würde.

Sich tätowieren lassen, um sich von älteren Generationen abzugrenzen: eine hübsche Theorie, denke ich. Im Sportstudio scheinen es tatsächlich vor allem jüngere bis thirtysomething Frauen zu sein, die zur Tätowierung greifen. Bis ich einige Tage später wieder beim Training bin. Als die grauhaarige Dame neben mir ihre Sporttasche in ihrem Spind schiebt und sich dabei im BH hoch streckt, erkenne ich unter dessen Trägen unverkennbar die Flügel eines tintenblauen Schmetterlings.