Donnerstag, 17. Januar 2013

Gegenlesen oder loslassen?


„Wäre es möglich, den gesamten Text vorab zu sehen?“ Ich recherchiere gerade einen Text über ein Sportthema. Es geht nicht um den Nahost-Konflikt, noch um die europäische Finanzkrise. Es handelt sich um keinen Investigationsjournalismus, nur um ein harmloses, wenn auch interessantes Thema – und dennoch möchte jeder, mit dem ich für den Artikel spreche und zitieren möchte, vorab die Zitate sehen – und am liebsten natürlich auch den gesamten Text überprüfen. Da es sich bei den Gesprächspartnern vor allem um Pressesprechern handelt, die darauf trainiert sind, nur das Richtige zu sagen, frage ich mich, woher dieser Unsicherheit hier in Deutschland? In den Jahren, in denen ich in London gearbeitet habe, ist es mir nicht ein einziges Mal passiert, dass ein Interviewpartner die Zitate vor Abdruck gegenlesen wollte. Kürzlich verkündete Jill Abramson, Chefredakteurin der "New York Times", ihre Zeitung werde keine Zitate mehr von Gesprächspartnern autorisieren lassen. Das war insofern überraschend, als man dadurch erfuhr, dass ihre Zeitung die Praxis des Gegenlesens überhaupt zugelassen hatte. Andere Medien gehen wiederum ganz anders mit dem Thema um: Das "Handelsblatt" sorgte zuletzt für Furore, als es ein doppelseitiges Gespräch mit einem französischen Banker abdruckte, von dem nur noch die Fragen gedruckt wurden. Der Manager hatte das Gegenlesen wohl etwas zu ernst genommen und die Antworten offenbar mehrfach umgeschrieben. Was also tun? Vielleicht einfach sich als Journalist die Zeit nehmen, die vielen Mails mit den Sätzen herauszuschicken, die autorisiert werden müssen: So kann ein Gesprächspartner sicher sein, zu wissen, was von einem ausführlichen Gespräch in zusammengefasster – und das muss man nun mal sagen, oft leicht modifizierter Form (wenn auch sinngleich; wortwörtlich wird kaum noch etwas gedruckt) – in der Zeitung stehen wird. Der Journalist muss nicht fürchten, hinterher Ärger zu bekommen, weil Gesprächspartner oder –partnerin „das so nie gesagt hat“. Und der Leser bekommt eine stimmige Geschichte. Alle können gut beruhigt am nächsten Morgen die Zeitung aufschlagen. Das ist doch auch etwas, oder?