Mittwoch, 10. August 2011

London Riots

Drei Tage brauchte David Cameron, um seinen Sommerurlaub abzubrechen und nach London zurückzukehren, um sich mit den Randalen auseinanderzusetzen. Dass er so lange gezögert hat, ist nicht unbedingt verwunderlich: Schließlich macht man die konservative Regierung, insbesondere das brutale Sparprogramm, das Cameron das hochverschuldete Land verordnet hat, für die derzeitigen Ausschreitungen verantwortlich. Tatsächlich geht es bei den „Riots“ um mehr als nur eine Reaktion auf die Einsparungen, die vor allem im sozialen Bereich gerade die ärmeren Vierteln Londons getroffen haben. In keinem europäischen Land ist die soziale Ungleichheit so zementiert wie in Großbritannien.

Nach wie vor bestimmen Herkunft und Aussprache - sprich: Klasse - den Stand in der Gesellschaft. Mein Vater, selbst aus der Arbeiterklasse, hatte es mit harter Arbeit vom Londoner Straßenjungen über die britische Armee und Abendschule zum angesehenen Designer geschafft. Wir Kinder sollten es besser haben: Für mehrere Tausend Pfund im Jahr schickte er uns auf eine Privatschule (und musste dafür stets bis spät in den Abend schuften). Morgens, wenn wir an der Bushaltestelle auf unseren Privatschulbus warteten, sahen wir die Kinder der staatlichen Schule auf der anderen Straßenseite auf den öffentlichen Bus waten. Uns trennte weitaus mehr als nur unsere Uniforme.

Heute kann ein Privatschulplatz mehr als 10 000 Pfund im Jahr kosten - während die Kindersterblichkeit in einigen Teilen Londons Drittweltniveau erreicht hat. Das in einem Land, das 13 Jahre von New Labour regiert wurde, für die oberster Ziel war, den „social divide“ für immer aufzuheben. Die Realität sah - und sieht anders aus: Unter Blairs Nachfolger Gordon Brown stellte die WHO fest, dass ein Kind im wohlhabenden Londoner Stadtteil Hampstead eine elf Jahre längere Lebenserwartung hatte als ein Kind aus King’s Cross, gerade fünf U-Bahn-Haltestellen weiter. Auch heute, wenn man sich nachts durch einige Straßen des sonst am Tage so glamourös erscheinenden West Ends hat man das Gefühl, sich in einem Sherlock Holmes-Film verirrt zu haben: so düster, so schmutzig, so viktorianisch wirken die Rückwände der Häuser, wo zwischen den Müllsäcken nicht selten Obdachlose – oft junge Männer – schlafen.

Die letzten zwei Jahre, die ich in London gelebt habe, zahlte ich mehr als 1000 Euro Kaltmiete für eine kleine Einzimmerwohnung – ein gewöhnlicher Preis für eine Wohnung, die zumindest nicht ganz am Stadtrand lag. Der Preis, um nur in der Stadt zu wohnen, erschien mir auf Dauer absurd. London ist eine tolle, aufregende Stadt: wenn man Geld hat. Wenn nicht, dann ist es für viele Menschen - aller Hautfarben und Altersgruppen - ein täglicher Überlebenskampf. Vor einigen Jahren behauptete Tony Blair „the class war is over“. Das stimmt, wie man diese Tage sieht, so nicht.