Freitag, 16. September 2011

Fliegen in London

In den Wochen, nachdem ein für mich sehr wichtiger Mensch gestorben ist, lähmt mich eine bleierne Müdigkeit. Zum Glück soll ich nach London; die Reise könnte eine gute Ablenkung sein, denke ich. Die Arbeit vor Ort fällt mir allerdings schwer. Ich möchte mich einfach nur für ein paar Stunden auf mein Hotelbett fallenzulassen und schlafen...

Und dann, am nächsten Tag, soll ich im Namen der Arbeit mit dem Rad durch London fahren. Es ist gar nicht lange her, da galt London als einer der gefährlichsten europäischen Städte für Radfahrer. Als Kind bin ich in London im Sommer täglich Rad gefahren: immer nur im Kreis, in unserem kleinen Hintergarten.

Nun boomt das Radfahren geradezu in London. An einigen Verkehrsknotenpunkten zählt die Londoner Verkehrsbehörde "Transport for London" zur Rush Hour-Zeit mehr Rad- als Autofahrer. Tatsächlich darf man sich nicht mehr wundern, wenn man als Fußgänger an einer Kreuzung steht und neben einem zehn Fahrradfahrer darauf warten, dass die Ampel auf grün schaltet. Die Radfahrer stammen dazu aus allen Klassen- und Altersgruppen: Banker und Studenten, Frauen in High Heels und Männer in Anzügen; sie fahren Vintageräder wie die bei Promis beliebte Electras, bonbonfarbene Fixedgear Bikes und Klappfahrräder.

Und ich, ich lenke zunächst vorsichtig meinen ausgeliehenen Foffa-Bike in dem Londoner Verkehr, überhole die ersten stehenden Taxis, sprinte bei Gelb vor den wartenden Autos und Bussen über die Kreuzung; nach kurzer Zeit habe ich das Gefühl geradezu zu fliegen: durch die Straßen Ost Londons, wo zwei ausrangierte U-Bahn Waggons auf einer graffitibeschmierte Mauer zu balancieren scheinen; am Tower vorbei, wo zwei Liebhaber mit Rollkoffern es vor der Bahnstation nicht schaffen, sich zu trennen; zur Themse runter, wo immer irgendein Wahrzeichen – der London Eye, die Tower Bridge – über Horizont oder Dächer ragt. Wie der einst berüchtigte englische Nebel lichtet sich beim Fahren etwas in mir und ich fühle mich wieder frei. Ich bin zurück im Leben.

(Mehr dazu gibt es von mir in der heutigen Financial Times).