„Dir geht’s aber nicht so gut, oder?“
Die Sonne scheint; meine Nachbarin verkleinert die Augen. Ihr Blick, und ihre Frage lassen mich für ein Moment panicken. Sehe ich so fertig aus? Habe ich wieder, wie neulich, die Wohnung mit einem riesigen Breifleck auf der Jacke verlassen? Bis aus meiner anfänglichen Verunsicherung Wut wird: Welches Recht hat diese Frau, die mich kaum kennt, eine solche Frage zu stellen? – eine in dem (zumindest für mich) weniger Höflichkeit oder ernsthafter Sorge, als Skepsis, Schadenfreude und vor allen Dingen Neugierde mitschwingt.
Als ich noch in London lebte, habe ich neben meinem Beruf als Journalistin an ein Projekt für das British Council mitgewirkt, an dem auch einige Deutsche mitarbeiteten. Die englischen Kollegen begrüßten einen stets mit einem fröhlichen „Morning!“, neutralen „Hi!“ oder mit einem schlichten Kopfnicken, telefonierten sie etwa gerade. Meine deutsche Projektleiterin dagegen fragte mich zur Begrüßung einmal: „Wie siehst Du denn aus? War wohl eine lange Nacht..“
Ich hatte an jenem Morgen sehr gut geschlafen, danke, wenn auch zur kurz: Die Augenringe kamen vermutlich daher, dass ich am Vorabend mal wieder zu lange gearbeitet hatte. Am liebsten hätte ich der Dame geantwortet, dass ich die Nacht durchgezecht hatte und mal wieder betrunken in einer Polizeizelle aufgewacht war. Aber ich riss mich zusammen, murmelte etwas, und setzte mich an meinem Platz.
Einige Leser dieser Zeilen werden meinen, ich würde jetzt nur auf den altbekannten Stereotypen des zu direkten Deutschen herumhacken: Tatsächlich habe ich diese Form der direkten und oft skeptischen Nachfrage seitens Menschen, die man wenig kennt, nur hierzulande erlebt. In England würde man seinem Nachbar einfach nur einen freundlichen „Hello“ zuwerfen, oder sich über das neutrale Thema Wetter austauschen. Einige würden behaupten, dass so ein nichtssagendes Gequatsche total oberflächlich sei. Ich sage dazu nur: Wir sind Nachbarn. Und nicht beste Freunde.
Eine Etikette-Expertin, die ich mal interviewen durfte, sprach ich mal auf dieses Thema an. Sie meinte, es würde sich dabei um falsch verstandene Nähe handeln: Der Kollege, Nachbar oder Bekannte würde meinen, er könnte so direkt zu einem sein, weil man sich doch kennen würde.
Die Erklärung der Expertin hilft mir manchmal ein wenig, mich nicht all zu sehr über das Thema aufzuregen, wenn ich etwa nach der seltenen Joggingrunde von einem Nachbar gefragt werde, ob ich eine längere Runde als sonst gedreht hätte, und daran zu denken, dass es sich hierbei um einen kulturellen Unterschied, bzw. eines Missverständnisses handeln würde. Meistens aber helfen mir solche Gedanken erst, wenn es zu spät ist. Eine Mutter aus der Nachbarschaft, mit der ich neulich über das Thema Kitaeingewöhnung sprach, verriet ich fälschlicherweise, dass die Eingewöhnung weniger meinem Sohn, als mir schwerfiel. Dazu sagte sie gleich: „ja, das sieht man.“
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